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Was möchtest du mal werden…?

Anforderungen an die Berufsorientierung in Deutschland

Was möchtest du denn mal werden, wenn du groß bist? Das ist eine Frage, die uns schon ganz früh beschäftigt und sicherlich jede*r schon mal gehört hat. Berufsorientierung im klassischen Sinn setzt in Deutschland systematisch (erst) in der 7. Klasse an. Dabei lassen sich im Lehrplan große Unterschiede zwischen den Bundesländern und in den Schularten feststellen. Weiterhin ist eine Vielzahl an Akteuren mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, Anforderungen und Aufgaben beteiligt: allen voran Kinder und Jugendliche selbst, aber auch Lehrer*innen, Eltern, Arbeitsagenturen, Kammern, Verbände und Betriebe. Klar ist, so groß die Vielfalt der Berufe in Deutschland ist, so vielfältig sind die Angebote und Anbieter von Berufsorientierung – an Ideen mangelt es nicht. Aber woran mangelt es dann? Oder passt alles so wie es ist?

Das Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) unterstützt bundesweit Akteure bei der Gestaltung von Angeboten zur Berufsorientierung – von der Handwerkskammer, über ausgewählte Jugendberufsagenturen bis hin zu Betrieben selbst. Darüber hinaus werden verschiedene Berufsfelder, zum Beispiel aus dem Handwerk oder aus dem MINT-Spektrum, bespielt sowie zu Anforderungen von unterschiedlichen Zielgruppen, beispielsweise Frauen, Jugendliche mit Startschwierigkeiten oder Jugendliche mit Migrationshintergrund, geforscht. Aus den Erfahrungen der Projekte, die jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die Berufsorientierung einnehmen und Zielgruppen ansprechen, lassen sich folgende wichtige Ansatzpunkte festhalten, um Berufsorientierung weiterzuentwickeln:

  • Zunächst ist es wichtig, im Berufsorientierungsprozess individuelle Potenziale zu entdecken. Davon ausgehend kann zusammen mit den Jugendlichen das weitere Vorgehen sowie berufliche Möglichkeiten besprochen werden. Es empfiehlt sich, mit den Stärken zu arbeiten und bei Unterstützungsbedarf passgenaue Maßnahmen zu besprechen sowie deren Ziele transparent zu machen. Die Maßnahmen sind dabei so anzulegen, dass ein Übergang in eine regelhafte Ausbildung unterstützt wird. Dies gelingt vorwiegend dann, wenn Maßnahmen praktisch und mit betrieblicher Beteiligung umgesetzt werden.  
  • Praktika waren und bleiben eines der wichtigsten Instrumente, um Einblicke in Berufe und Betriebe zu erlangen. Auch in der f-bb Studie „Fachliche Impulse zur Optimierung des Berliner Übergangssektors“ wird die Relevanz von gut begleiteten Praktika betont (Kretschmer S., et. al., 2023). Häufig absolvieren Jugendliche mehrere Praktika und entscheiden sich nicht zuletzt für den Betrieb, der sie bereits in der Kennenlernphase gut eingebunden hat. Leider sind Praktika häufig noch zu wenig zielgruppenorientiert und nur vom „Mitlaufen“ geprägt. Das Potenzial von durchdachten und spannenden Praktika ist um ein Vielfaches höher. Ein unterstützenswerter Ansatz ist in diesem Zusammenhang auch das im Regierungsentwurf zur Stärkung der Aus- und Weiterbildung vorgesehene Berufsorientierungspraktikum für Jugendliche, die ohne Ausbildungs- oder Studienplatz das Schulsystem verlassen. So fördert eine weitere praxisgeleitete Orientierung den direkten Kontakt mit den Betrieben und damit ein Kennenlernen auf beiden Seiten. Der Einblick in die betriebliche Praxis wird ermöglicht sowie der Einstieg in eine regelhafte Ausbildung unterstützt. 
  • Eine wichtige Botschaft im Berufsorientierungsprozess sollte sein, dass es in jedem Berufsfeld Entwicklungs- und Karrierechancen gibt. Eine Ausbildung oder ein Studium müssen nicht die Endstation sein. Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu spezialisieren und weiter zu qualifizieren. Ein Masterstudium, eine Techniker- oder Meisterfortbildung sind die bekanntesten. Für Schüler*innen ist es hilfreich, wenn role models in die Berufsorientierung eingebunden werden. Sie können erzählen, wie sie ihren Weg gegangen sind. 
  • Studien belegen, dass sich mit zunehmenden Alter der Kinder und Jugendlichen die Einschätzungen zu typisch männlichen und typisch weiblichen Berufen verstärkt. In einer Studie der pädagogischen Hochschule Steiermark wurde festgestellt, dass z.B. der Beruf des/der Informatiker*in in der 3. und 4. Klasse stärker als typisch männlich eingeschätzt wurde als in der 1. und 2. Klasse (Luttenberger et.al., 2021, S.18). Berufsorientierung sollte daher frühzeitig ansetzen, um gerade Geschlechterklischees und geschlechtstypische Zuschreibungen zu Berufen aufzubrechen. Die Angebote in den unteren Klassen der weiterführenden Schulen sowie in den Grundschulen müssten jedoch altersgerecht ausgestaltet sein und eher einem erlebbaren Kennenlernen der Berufe und des beruflichen Systems in Deutschland gleichen. 
  • Bild und Sprache setzen starke Signale an Jugendliche, meist unterbewusst. Daher ist es für alle Akteure der Berufsorientierung wichtig, sich dieser Signale bewusst zu sein und klischeefreie Sprache und Bildmaterial zu nutzen. Schulungen und Seminare von Initiativen (z.B. Initiative klischeefrei) helfen dabei, sich Wissen anzueignen und sich selbst weiterzuentwickeln. Diese Anforderung richtet sich insbesondere an jene, die Berufsorientierung im Sinne von Beratung und Maßnahmen durchführen: Mitarbeiter*innen von Kammern, Bildungsdienstleister und Agenturen für Arbeit, Lehrer*innen oder auch Eltern. Im Rahmen des Projekts „(Mehr) Mädchen ins Handwerk“ hat das f-bb zusammen mit der HWK Oberfranken und der HWK Niederbayern-Oberpfalz einen Beratungsleitfaden für eine klischeefreie Berufsorientierung erarbeitet, der weitere Impulse enthält. 
  • Eltern sind die wichtigsten Influencer, wenn es um die Berufswahl von Schüler*innen geht und stehen daher in den letzten Jahren immer mehr im Fokus des Berufsorientierungsprozesses. Weit bevor das Thema Berufswahl direkt angesprochen wird, senden sie durch ihre eigenen Berufe und Berufsbilder Signale an die Jugendlichen. Steht die Berufswahl an, werden oft die bekannten Berufswege weitergegeben. Deswegen ist es wichtig, Eltern ebenfalls einen Einblick in die Welt der Berufe und Aufstiegsmöglichkeiten zu vermitteln und ihnen Ansprechpartner*innen zu nennen, die ihnen im Bedarfsfall weiterhelfen. Es ist daher wichtig, geeignete Formate und Ansatzpunkte für alle Eltern zu finden, insbesondere auch für diejenigen, die aufgrund von beruflicher Tätigkeit oder Distanz zum Berufsbildungssystem schwer zu erreichen sind. Als Beispiel guter Praxis ist der KAUSA Elternratgeber zu nennen, der in unterschiedlichen Sprachen Eltern mit Migrationshintergrund über die duale Ausbildung informiert und sich methodisch dem story telling bedient. Aber auch virtuelle (Kurz-)Formate am Abend sind bei Eltern gefragt. 
  • Um die Grundlagen für eine systematische Berufsorientierung zu schaffen, könnte der Stellenwert und der Umfang von Berufsorientierung in den Lehrplänen aller Schularten erhöht werden. Die Berufsorientierung in Schulen sollte dazu beigetragen, dass Transparenz über alle beruflichen Bildungswege und Berufsfelder geschaffen wird und zwar früher, systematischer und umfangreicher. Die Lehrkräfte, als Bezugspersonen und Informationsgeber der Schüler*innen brauchen dafür entsprechende Informationen, Qualifizierungen und Netzwerke, auf die sie für konkrete Maßnahmen zurückgreifen können.

Das System der Berufsorientierung ist im stetigen Wandel, es werden kreative Ideen generiert und relevante Akteure eingebunden. Oft ist es nicht ein „zu wenig“ an existierenden Maßnahmen. Um bessere Effekte zu erzielen und alle Jugendlichen mitzunehmen bedarf es einer verstärkten Modernisierung z.B. in Bezug auf eine klischeefreie Berufsorientierung und praxisorientierte Formate auch im Unterricht sowie einer Systematisierung von Angeboten. Denn eine zielgruppen- und praxisorientierte sowie klischeefreie und umfassende Berufsorientierung sollte kein Zufall sein oder vom Engagement einzelner Akteure abhängen. Mit der geplanten Ausbildungsgarantie, der Initiative Bildungsketten, der regelmäßig stattfindenden Kultusministerkonferenz der Länder sind zumindest die Kanäle für Veränderung offen.

Literatur:

Luttenberger, S., Ebner, S., Paechter, M. (2021): Bildungs- und Berufsorientierung frühzeitig(er) ansetzen.

Kretschmer, S. et al. 2023: Fachliche Impulse zur Optimierung des Berliner Übergangssektors Schule – Beruf.