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Mehr als nur Waschen und Füttern

Daniela Kretzschmar und Susanne Thieme vom IB erklären, warum die Pflege mehr klischeefreie Berufsorientierung benötigt

Berufsorientierung ist ein wichtiges Instrument am Übergang Schule-Beruf. Gut umgesetzt kann sie dazu beitragen, den Fachkräftebedarf zu decken und Ausbildungsabbrüche zu verhindern. Eine große Herausforderung dabei: Die Berufsorientierung klischeefrei zu gestalten. Junge Menschen sollten einen Ausbildungsberuf wählen, der den eigenen Wünschen und Stärken entspricht. Gesellschaftliche Erwartungen sollten dabei keine Rolle spielen.

Mit dem Projekt „Pflege braucht Zukunft“ wird das Ziel verfolgt, die Berufsorientierung im Bereich Pflege und Gesundheit klischeefrei zu gestalten. Es handelt sich um ein Projekt im Rahmen des vom Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) durchgeführten Landesprogramms Regionales Übergangsmanagement in Sachsen-Anhalt (RÜMSA). Im Interview geben die Projektmitarbeiterinnen Daniela Kretzschmar und Susanne Thieme Einblick in ihren Arbeitsalltag.

 

Landesnetzwerkstelle RÜMSA: Warum ist klischeefreie Berufsorientierung wichtig? Mit welchen Klischees haben Sie es in Ihrem Projekt zu tun?

Daniela Kretzschmar: Gerade die Berufe in der Pflege sind besonders klischeebehaftet. Oft wird gesagt: Da geht es doch nur um Waschen und Füttern. Das ist ein Knochenjob, der Job macht dir den Rücken kaputt. Ein klassisches Klischee der Eltern ist: Da wirst du schlecht bezahlt! In der Pflege kannst du dich nicht weiterentwickeln. Alles falsch bzw. nie das ganze Bild. Die Bezahlung im Ausbildungsberuf als Pflegefachfrau/-mann ist ähnlich hoch wie bei der Bankkauffrau oder dem Bankkaufmann. Es gibt Studiengänge wie Pflegepädagogik oder Pflegemanagement, da kann man sich weiterbilden und beruflich aufsteigen. Der Pflegebereich ist abwechslungsreich und es wird viel für die Rückengesundheit getan. Und nicht zu vergessen das Klischee, mit dem Schüler*innen mit Migrationshintergrund konfrontiert werden: Das schaffen die doch gar nicht wegen der Sprache. Das geht nicht, wenn sie Kopftuch tragen. Das kann man nicht machen mit den Patient*innen, wenn die dann verhüllt sind. Wir haben in unserem Projekt ganz andere, positive Erfahrungen gemacht.

Wir versuchen den Schüler*innen zu vermitteln: Ja, Pflege- und Gesundheitsberufe sind Berufe, da lohnt es sich eine Ausbildung zu machen, das macht Spaß und hat einen Sinn, darin kann man sich weiterentwickeln, das ist etwas für meine Zukunft.

Susanne Thieme: Die Problematik ist, dass wir als Projektmitarbeiterinnen manchmal vor einer Wand von Vorurteilen stehen, mitunter ist das Elternhaus daran nicht ganz unschuldig. Eine große Herausforderung in den Elternversammlungen ist es, dass man die Klischees aufbricht, indem man ihnen neutral begegnet und sachlich argumentiert. Klischees sind meist tief verwurzelt und die können wir nicht mit einem Gespräch beseitigen. Aber wir können sensibilisieren und ansprechen. Interessanterweise haben wir gemerkt, dass die Schüler*innen mitunter gar nicht so vorurteilsbehaftet gegenüber der Pflege sind.

 

Landesnetzwerkstelle RÜMSA: Wie lässt sich Berufsorientierung klischeefrei umsetzen?

Susanne Thieme: Ganz wichtig in der Arbeit mit den Jugendlichen ist Partizipation und Dialog, sie ermuntern, sich erst einmal mit den Berufen zu beschäftigen. Und dann natürlich die bei einem selbst vorhandenen Klischees abzubauen. Wir als Projektmitarbeiterinnen müssen uns auch immer wieder entsprechend weiterbilden, auch etwa im Bereich Öffentlichkeitsarbeit wenn es um zielgruppenorientierte Sprache und ausgewogene bildliche Darstellung geht.

 

Landesnetzwerkstelle RÜMSA: Sie regen dazu an, gängige Rollenklischees kritisch zu hinterfragen, und Sie zeigen Jugendlichen die Vielfalt der Ausbildungswege und Berufe auf – Wie gehen Sie dabei vor?

Daniela Kretzschmar: Wir versuchen, die Berufe neutral und umfassend darzustellen. Pflegekräfte arbeiten zum Beispiel nicht nur klassisch in der Klinik oder in Altenpflegeeinrichtungen, sondern auch im Labor oder in der Radiologie. Viele junge Menschen haben einige Berufe gar nicht auf dem Schirm oder kennen sie nicht. Nehmen wir zum Beispiel den Beruf der Bestattungsfachkraft, der ja auch zu den Gesundheits- und Pflegeberufen gehört. Das ist etwas Exotisches. Manche Berufe werden in der regulären Berufsorientierung gar nicht erwähnt und wir versuchen in unserem Projekt, die große Vielfalt von Möglichkeiten aufzuzeigen. 

 

Landesnetzwerkstelle RÜMSA: Holen Sie sich dabei auch Unterstützung aus der Praxis?

Susanne Thieme: Wir stellen gerne Menschen vor, die durch ihr Wirken und ihre eigenen Erfahrungen mit den gängigen Klischees aufräumen. Zum Beispiel eine weibliche Bestatterin oder Männer, die in vermeintlich „typischen“ Frauenberufen im Bereich Pflege und Gesundheit arbeiten. Oder Personen, die mit einem Hauptschulabschluss ins Berufsleben gestartet sind. Nun haben sie erfolgreich eine Fachausbildung absolviert. Unsere Partner*innen sehen ihr Engagement bei uns weniger als Arbeit, eher als eine Herzensangelegenheit.

 

Landesnetzwerkstelle RÜMSA: Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Susanne Thieme: Der weitere umfassende Abbau von Klischees und Vorurteilen in Einrichtungen des Gesundheits- und Pflegewesens ist ganz wichtig. Zudem sollten wir verstärkt dafür werben, dass auch Förderschüler*innen eine Ausbildung beginnen und dann peu à peu eine Zusatzausbildung absolvieren, wenn sie das möchten. Lehrkräften in Förderschulen kommt hier eine besondere Rolle zu.


Das Projekt „Pflege braucht Zukunft" wird durchgeführt von Internationaler Bund (IB), IB Mitte gGmbH für Bildung und soziale Dienste. Es handelt sich um ein Projekt im Rahmen des Landesprogramms Regionales Übergangsmanagement in Sachsen-Anhalt (RÜMSA), das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des Landes Sachsen-Anhalt im Burgenlandkreis durchgeführt wird.

Claudia Bachtenkirch

Susanne Green