InfoForum 01/2020

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Mit der „vierten Säule“ des Bildungssystems gegen das „Matthäus-Prinzip“: Zur kompensatorischen Funktion der beruflichen Weiterbildung

Ein Kommentar

Ein Gutteil der aktuellen Diskussionen um die Nationale Weiterbildungsstrategie (NWS) fügt sich in ein bekanntes Muster ein: das Wechselbad hochgesteckter Erwartungen und stets neu zu Protokoll gegebener Enttäuschung, das die deutsche Weiterbildungslandschaft seit langem prägt. Sein Ausgangspunkt ist die vielfach politisch genährte Hoffnung, die Weiterbildung könnte – wie schon vom Deutschen Bildungsrat 1970 gefordert – zur „vierten Säule des Bildungssystems“ neben allgemeiner, beruflicher und Hochschulbildung aufgewertet werden. Oft verbindet sie sich mit der Forderung, die berufliche Weiterbildung solle eine sozial ausgleichende Funktion übernehmen. Zu überwinden sei das „Matthäus-Prinzip“, dem zufolge nur die ohnedies bereits Hochqualifizierten guten Zugang zu beruflicher Weiterbildung haben, bestehende Bildungsunterschiede durch diese also vertieft und verfestigt werden: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Der so formulierte Anspruch an die Weiterbildung ist im deutschen Bildungssystem nur bedingt anschlussfähig.

Dass die „Säulen eins bis drei“ des Bildungssystems in Deutschland staatlich weitgehend organisiert und finanziert, jedenfalls aber geordnet und kontrolliert sind, hat auf der Hand liegende Gründe: Moderne marktwirtschaftliche Ökonomien benötigen eine Erwerbsbevölkerung mit Kenntnissen und Fertigkeiten entsprechend den je aktuellen Erfordernissen in den verschiedenen Handlungsfeldern von Wirtschaft, Politik und Verwaltung auf allen Hierarchieebenen. Bildung im erforderlichen Umfang zu generieren übersteigt aber einerseits die Möglichkeiten der Erwerbsbevölkerung – es fehlt den Einzelnen im Normalfall schlicht am hierfür erforderlichen Überblick und den nötigen Ressourcen – und widerspräche andererseits der betriebswirtschaftlichen Kalkulation der Unternehmen. Für die Verfügbarkeit der erforderlichen Kompetenzen Sorge zu tragen wird – je nach Sozialstaatsmodell in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang – Staatsaufgabe. (Einschlägig für das Schulwesen ist in Deutschland der in die „Ewigkeitsklausel“ des Artikels 79 Abs. 3 eingeschlossene Artikel 7 des Grundgesetzes.)

Im Bereich der Weiterbildung stellt sich die Situation anders dar. Die Weiterbildungspolitik des Bundes sieht sich – ausweislich der NWS – bleibend in subsidiärer Rolle innerhalb eines Akteursdreiecks:

  • Die Unternehmen investieren in Weiterbildung, weil und insoweit dies betrieblichen Notwendigkeiten entspricht (neue Maschinerie, veränderte organisatorische Abläufe, Rekrutierung von Führungskräftenachwuchs…). Gesichtspunkte eines nationalen Qualifikationsbedarfs sind dabei nicht handlungsleitend.
  • Die individuelle berufliche Bildung ergänzt betriebliche Maßnahmen um Bildungsaktivitäten, die die abhängig Beschäftigten eigeninitiativ einleiten und durchführen. Ziel ist es, die Veränderungen der Arbeitswelt oder den Übergang in neue betriebliche Funktionen zu bewältigen oder Voraussetzungen für angestrebte Karriereschritte zu schaffen. Dies bewegt sich notwendig im Horizont der eigenen Umfeldbedingungen, Interessen, Einschätzungen und Ressourcen.
  • Die Bildungspolitik sieht in Sachen Weiterbildung zunächst die Wirtschaftssubjekte am Zug, um deren „Bildungsrendite“ es geht. Sie wird ihrerseits dann aktiv, wenn private Bildungsinvestitionen aus der Perspektive des volkswirtschaftlichen Gesamtinteressesnicht mehr ausreichen. Dabei stehen Fragen der Deckung des nationalen Fachkräftebedarfs und der internationalen Konkurrenzfähigkeit im Vordergrund. „Der sich beschleunigende technische und wirtschaftliche Struktur- und Branchenwandel, insbesondere die digitale Transformation der Wirtschaft“ (NWS) hat in diesem Sinne jetzt Anlass zu verstärkten weiterbildungspolitischen Bemühungen gegeben. Weil sie aus der subsidiären Rolle heraus unternommen werden, liegen die Schwerpunkte auf Information, Beratung, Förderung privater Initiativen der Wirtschaftssubjekte, Verbraucherschutz und Monitoring – Maßnahmen, die den Menschen helfen, „das Berufsleben in die eigene Hand zu nehmen“ (ebd.).

In konjunkturell günstiger Lage und angesichts eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels kann dies durchaus zu Fortschritten bei der Teilhabe Geringqualifizierter an beruflicher Bildung führen. Das Agieren der Bildungspolitik in der skizzierten Dreieckskonstellation setzt ihnen aber auch Grenzen. Lebens-, d. h. nicht zuletzt arbeitsbegleitendes Lernen kostet nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Mühe – das gilt für die sogenannten „Bildungsfernen“ in besonderer Weise.

Eine weiterreichende ausgleichende Wirkung der beruflichen Weiterbildung stößt aber auch und vor allem auf folgende Schranke: Dass „dem, der hat, gegeben wird“, gilt im Bildungssystem von Anfang an. Es organisiert Lernen als Verteilung von Zugangsmöglichkeiten (also auch Ausschlüssen) – zunächst im Bildungssystem selbst, dann in der Arbeitswelt, für die es qualifiziert. Wer wenig oder langsam gelernt hat, wird schon innerhalb des dreigliedrigen Schulsystems von Lerngelegenheiten ausgeschlossen. Wäre das anders, käme auch die Idee der Kompensation gar nicht auf. Wer im Kampf gegen Bildungsarmut primär auf die berufliche Weiterbildung setzt, greift zu kurz.

Dr. Thomas Reglin